Heut sah ich in der Auslage eines Elektro-Geschäftes ein altmodisches silbernes Taschenradio um Euro 19,90. In Zeiten von Walkman und iPhone schon fast ein Anachronismus. Es brachte plötzlich die Erinnerung an einen Schulkollegen zurück, der - fast autistisch - eine ganz besondere Art der Kommunikation pflegte: mit einem tragbaren Kassetten-Recorder. Er wusste auch immer genau, wo auf der Kassette er die passenden Sätze oder die passende Musik vom Radio oder dem Fernsehapparat aufgenommen hatte. Man fragte ihn beispielsweise nach seinem Befinden: „Wie geht’s dir so?“ und er spulte etwas vor oder zurück, drückte die Play-Taste und es ertönte ein Lied von Kurt Sowinetz: Alle Menschen san mir z’wider, i möcht’s in de Goschen haun! Mir san alle Menschen z’wider, in de Goschen möcht i’s haun!
Oder, wenn man versuchte ihn anzupumpen, fragte: „Kannst du mir 10 Schilling leihen?“ Schon spulte er flugs zum, von einer aparten Frauenstimme verlautbarten, damals bekannten Telefon-Satz: Kein Anschluss unter dieser Nummer! (Übrigens der am meisten von ihm strapazierte Satz)
Erkundigte sich jemand nach der Uhr-Zeit bei ihm, bekam der zu hören: Es ist später als du denkst! Auf die Frage nach einem Haustier spielte er den Werbeslogan ein: Tus macht Schluss mit lästigen Insekten! Fragte man ihn nach der Mathe-Schularbeit neugierig , was er beim 2. Beispiel rausgekriegt hat, ertönte die aufgeregte Stimme eines bekannten Politikers: Das kann sich jeder selber ausrechnen, meine lieben Freunde! Und als ihn eine Schulkollegin um Rat wegen ihrer Berufswahl fragte, riet er ihr per Recorder mit schwülstiger Stimme eines berühmten Schauspielers: Geh in ein Kloster, Ophelia, oder geh in ein Bordell! Was kümmert es mich!
Das verriet aber auch, wie gebildet er in sehr jugendlichem Alter schon war, denn von uns hörte sich noch keine(r) den Hamlet an. Auch aus Nachrichten-Sendungen nahm er für ihn zutreffende Meldungen auf. Als ihn einmal ein Lehrer mündlich prüfte: „Was weißt du denn über den Prager Fenstersturz?“ spulte er zum Satz: Laut Versicherungsberichten passieren die meisten Haushaltsunfälle beim Fensterputzen!
Daraufhin wurde ihm sein Recorder konfisziert und er verstummte gänzlich. Der Lehrkörper, ein Woody Allen-Typ (Schmalzlocke, Hornbrille, leeres Hemd), höhnte noch: "Kannst du nicht auf andre Weise Laut geben?" Und der Klassenkasperl legte noch ein Schäuferl zu: "Red' oder scheiß Buchstaben!" - Da zog der kleine Knilch eine Mundharmonika aus der Hosentasche und stimmte Sergio Leones Lied vom Tod an. Seine alleinerziehende Mutter erschien am nächsten Tag verärgert beim Direktor und beschwerte sich, weil sie ihm nicht ein neues Gerät kaufen konnte, um zu erfahren, was er zu speisen wünscht, wie z.B.: Es gibt Reis, Baby! (von Helge Schneider) oder Spaghetti Carbonara! (von Spliff) Und aufschreiben wollte er’s auch nicht! Nie machte der den Mund auf. Sein Spitzname lautete daher wenig überraschend Stummerl! Ich wusste auch nur deshalb, dass er überhaupt Zähne hatte, weil ich ihm immer meine Pausen-Äpfel schenkte, die er dann genüsslich knabberte, worauf er jedesmal aus dem Gerät den Satz verlauten ließ: Der Herr möge dir deine gute Tat vergelten! Den hatte er aus der sonntäglichen Gottesdienst-Übertragung aufgenommen. Dass Stummerl sprechen konnte, wusste der Klassenstreber zu berichten, der ihn einmal, als sein Recorder schon leere Batterien hatte, das Wort 'Scheißdreck' sagen hörte. Wenn sein Wortschatz aus solch derben Ausdrücken bestand, ist es rückblickend ein Glück, dass er andere für sich reden ließ. Er schlug sich auch nie mit renitenten Mischülern, sondern bediente sich eines Satzes aus einem Kriminal-Hörspiel, mit eindringlich tiefer sonorer Stimme geflüstert: Wenn ich dich erst einmal in meiner Gewalt habe, dann wirst du den Tag verfluchen, an dem du geboren wurdest! Es funktionierte tatsächlich, seine jeweiligen Gegner lachten nur, anstatt ihm das Gerät schwungvoll über den Schädel zu hauen.
Es rang mir große Bewunderung ab, dass er wirklich innerhalb kürzester Zeit eine Antwort auf jedwede Frage geben lassen konnte, die irgendwie passte, manchmal belustigte, manchmal betrübte und manchmal betroffen machte. Als ihn einer von uns fragte, ob er denn keinen Papa habe, ließ er den Trauermarsch erklingen: ta ta tataaa -ta ta taa tata tataaa!
Das zeigte auch seine Fähigkeit, andere genau einzuschätzen und sich auf zukünftige noch unbekannte Situationen entsprechend vorzubereiten, sowie seine Engelsgeduld, auf jede Frage die richtige Antwort abzupassen. Stunde um Stunde musste der mit dem Finger auf der Record-Taste ausgeharrt haben, um endlich einen für seine Zwecke geeigneten Satz zu erwischen. Einmal erkundigte ich mich bei ihm, wie er das macht und er spielte mir wieder einen Satz aus einer Messe vor: Wer suchet, der findet, wer klopfet an, dem wird aufgetan! „Wo soll ich anklopfen?“ fragte ich. - Schon spulte er weiter und es ertönte - wie ich heute weiß - Lohengrin: Niiiie sollst du mich befraaagen! „Aber Stummerl, mit mir könntest du doch wenigstens reden.“ beschwor ich ihn.- Kein Anschluss unter dieser Nummer! Wahrscheinlich hätte er es sowieso nicht erklären können, wie der Tausendfüßler, der vom Fuchs befragt, wie er mit seinen vielen Beinen überhaupt so schnell gehen könne, draufhin nur mehr verstört vor sich hinstolperte. Tja! Stummerl, der Kollege mit den 1000 vorbereiteten Antworten.
So behielt ich ihn in Erinnerung: mit dem alten tragbaren Kassetten-Recorder unter den linken Arm geklemmt, verschlossenem Mund und feindseligem Blick. Leider weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist - sicher kein Politiker, eher ein Konzeptkünstler am Rande des Existenzminimums, so wie ich auch - aber auf das Vergelten meiner guten Taten an ihm warte ich bis dato vergeblich! Naja, kein Anschluss unter dieser Nummer!
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